Vorwort
Gestern, am 28.05.2022 war es so weit, mit 2 Jahren Corona-Verzögerung konnte der Workshop „Respekt ein agiler Wert für das Miteinander auf Augenhöhe“ auf dem DGTA-Kongress 2022 in Osnabrück stattfinden. Die Teilnehmenden inspirierten sich gegenseitig zu einem anregenden Austausch mit Respekt zur digitalen Revolution und den drei Buzzwords Agilität, Digitalisierung und New Work und wie Transaktionsanalyse in dem agilen Kulturwandel angewendet wird.
Überprüfen & Anpassen als gelebtes Prinzip der Transaktionsanalyse 3.0 ließ mich das 6S-Modell zum 7S-Modell weiterentwickeln. Das 7S-Modell ist die neuste Erweiterung des Modells der psychologischen Hungerarten, welches auf Eric Berne als der Gründer der Transaktionsanalyse 1.0 zurückgeht. Das 7S-Modell umfasst die Erkenntnisse von Prof. Gerald Hüther zur Strukturierung des Gehirns und die Erkenntnisse aus der Agilität zu den dynamischen Bedürfnissen von Maslow. Das 7S-Modell und das Führungsprozessmodell sind im Kongressreader veröffentlicht (vgl. Hinweis am Ende).
Ist „Respekt“ die gelebte Erkenntnis, dass sich Hunger / Bedürfnisse verändern?
Für Antworten betrachte ich gebräuchliche Modelle im agilen Umfeld und die korrespondierenden „agilen“ Modelle der Transaktionsanalyse und das jeweilige Verständnis von Respekt.
- Gebräuchliche Modelle im agilen Umfeld
- Werte, Prinzipien, Werkzeuge / Tools – ein agiler Dreiklang
- Bedürfnisse nach Maslow
- Korrespondierende „agile“ Modelle der Transaktionsanalyse
- Ethik – Werte, Prinzipien
- Autonomie, Autonomiezirkel, Persönlichkeitsentwicklung und 7S-Modell als Werkzeug
Gebräuchliche Modelle im agilen Umfeld
Findet sich Respekt im agilen Dreiklang?
Kanban ist eine agile Methode, die in den letzten 75 Jahren das Lean Development und dann agiles Projektmanagement mit der Methode Scrum hervorbrachte. Der ursprüngliche Aufbau von Kanban mit dem agilen Dreiklang aus Werten, Prinzipien und Werkzeugen zeigt sich auch in der Scrumethik mit den wesentlichen Elementen Werte, Säulen, das Scrum-Team (beides enthält Prinzipien) und bspw. in den Scrum-Ereignissen (Werkzeuge). Die Scrum-Erfinder Schwaber und Sutherland nennen im Scrum Guide 🌐 fünf Werte, Selbstverpflichtung, Mut, Fokus, Offenheit und Respekt. Die Scrum-Säulen bestehen aus den vier Begriffen Vertrauen, Transparenz, Überprüfen und Anpassen, wobei das Vertrauen dem Wortlaut nach durch das Leben und Verkörpern der Werte und Prinzipien durch das Team entsteht. Das Zitat „Mitglieder von Scrum-Teams respektieren sich gegenseitig als fähige, eigenverantwortliche Individuen“ zeigt den Wandel zu einer Vertrauenskultur durch Respekt im Miteinander. Die Gegenseitigkeit und die Gleichwertigkeit in unterschiedlichen Rollen im Scrum-Team sind auch schon erste Ansätze zum Prinzip #augenhöhe. Der Wandel zu einer Vertrauenskultur ist keine Erfindung der Agilität, sondern ein Prozess, der zum gesellschaftlichen Wandel der digitalen Revolution passt und auch zu Initiativen wie #gerneperdu führt.
Dieser kulturelle Unterschied wird von einem externen Betrachter vielleicht gar nicht wahrgenommen, denn dieser sieht vermutlich zunächst die Werkzeuge, wie das Scrum-Board, die vier Scrum-Ereignisse oder das Timeboxing. Das Daily Scrum, eines der vier Scrum-Ereignisse, findet bspw. als tägliches, max. 15-minütiges Standup-Meeting auch außerhalb der Scrum-Methode Anwendung. Daily Scrum und andere agile Werkzeuge finden sich im Artikel „Agile Werkzeuge – Kommunikation als Führungsaufgabe„.
Das Modell der „Agilen Zwiebel“ zeigt diesen Unterschied zwischen sichtbaren Tools und dem dahinterliegenden Mindset oder zu Haltung, Weltsichten und Menschenbildern mit dem Ziel der lernenden Organisation. Mindset ist dabei ein wichtiges Thema, welches im Artikel „Agiles Mindset“ in den Vordergrund geholt wird. In diesem strukturellen und kulturellen Wandel ist Führungskräfte Coaching für die Arbeit am Führungsmindset.
Dynamische Bedürfnisse nach Maslow
Die Bedürfnispyramide von Maslow ist vielen Menschen zumindest dem Namen nach bekannt, allerdings ist keine Aufzeichnung von Maslow in Form einer „Bedürfnispyramide“ bekannt. Vielmehr scheint sich diese Darstellung durch die Interpretation und das damals vorhandene Mindset verbreitet zu haben. Faktisch zeigte schon Krech, Crutchfield & Ballachey (1962, S. 72/77) eine dynamische Darstellung der fünf Bedürfnisse:
- Physiologische Bedürfnisse
- Sicherheitsbedürfnisse
- Soziale Bedürfnisse (Anschlussmotiv)
- Individualbedürfnisse (Wertschätzung und Anerkennung)
- Selbstverwirklichung
Die Ebenen 1 – 4 werden dabei den Mangelbedürfnissen / Defizitbedürfnissen zugeordnet. Die Ebene 5 enthält die Wachstumsbedürfnisse zur Selbstverwirklichung. Allihn veröffentlichte 2013 ihre Ergebnisse zu den 5 Bedürfnissen und hält sie in einer dynamischen Bedürfnisdarstellung fest. Die Generation Y hat demnach dieselben Bedürfnisse, allerdings ist die Wertigkeit, Bedeutung bzw. Dominanz in dieser Generation gegenüber älteren Generationen verschoben. Dies wird darauf zurückgeführt, dass diese Generation keine tiefgreifenden Mangelsituationen durch Kriege oder tiefgreifende Wirtschaftskrisen erfahren musste. Demzufolge sind Bedürfnisse und die Motivation zur Selbstverwirklichung stärker ausgeprägt. Weitere Autoren verwenden ebenfalls die dynamische Darstellung der Maslowschen Bedürfnisse und stellen auf die Entwicklung der Persönlichkeit ab. Im Hinblick auf Respekt im Miteinander auf #augenhöhe halte ich fest, dass die unterschiedliche, individuelle Wichtigkeit verschiedener Bedürfnisse auf unterschiedlichen Entfaltungsmöglichkeiten und Erfahrungen basiert. Respekt erscheint so immer mehr als eine Antwort aus den Werten und dem Mindset auf Basis der Diversität.
Korrespondierende „agile“ Modelle der Transaktionsanalyse
Wert, Prinzipien und Modelle in der Transaktionsanalyse
Die Deutsche Gesellschaft für Transaktionsanalyse e.V. veröffentlicht ebenfalls eine Ethik, wie die verschiedenen Dachorganisationen zu den agilen Methoden. Respekt ist ein Prinzip in der TA-Ethik 🌐, was im Scrum-Guide ein Wert ist. Gegenseitigkeit ist in der TA-Ethik unter den Werten zu finden, was im Scrum-Guide unter dem Team steht. Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit aus der TA-Ethik finden sich in der Scrumethik in Begriffen wie „eigenverantwortlich“ oder „Selbstverpflichtung“ wieder. Die beiden Ethiken sind somit grundsätzlich vereinbar. Die TA-Ethik geht mit dem enthaltenen Menschenbild und der daraus resultierenden Haltung einen Schritt weiter als der Scrum-Guide.
Autonomie
Das Leitziel Autonomie ist als Begriff nicht mehr Bestandteil der TA-Ethik, gleichwohl wird die Autonomie weiterhin als zentraler Bestandteil des Menschenbilds der Transaktionsanalyse gesehen. Eric Berne subsumiert unter Autonomie Bewusstheit, Spontanität und Intimität. Ein Schlagwort wie Autonomie lässt sich nicht durch 3 weitere Schlagworte mit Leben füllen, weshalb die wissenschaftlichen Erkenntnisse von Prof. Gerald Hüther zur menschlichen Grundfähigkeit der Selbstentfaltung und Potentialentfaltung von besonderer Bedeutung sind. Hierdurch wird klar, warum Eizelle und Samenzelle sich zu einem Menschen entwickeln oder warum ein Baby auch psychologisch zu einem Erwachsenen heranreift. Dieser Wachstumsprozess ist einerseits im Strukturmodell der Psyche auf Basis der Ichzustände und zum anderen im Autonomieprozess oder Reifemodell des Autonomiezirkels enthalten.
Respekt im 7S-Modell der psychologischen Hungerarten
Das 7S-Modell basiert auf den psychologischen Hungerarten, die seit den Modellanfängen auf Wörtern mit „S“ am Wortanfang beginnen. Das Besondere am Begriff Hunger im Verhältnis zu den Bedürfnissen von Maslow ist, dass Hunger automatisch individuelle Maßstäbe zu satt, hungrig und Völlegefühl (Übersättigung) assoziiert. Die Hunger sind somit individuell und auch dynamisch, da diese mit dem Autonomieprozess oder der Persönlichkeitsentwicklung einer jeden Person im Wandel sind. Auch die bildlichen Assoziationen von den Folgen dauerhaften Hungerns oder anderer Wohlstandskrankheiten passen zu psychologischen Folgen in Form von Störungen und Krankheiten.
- Selbstentfaltungshunger (engl. self-unfolding): Selbstentfaltung ist das individuelle Bestreben, die in jedem Menschen angelegten Talente, Potentiale u. a. Möglichkeiten zu entfalten und in Kompetenzen zu verwandeln und unsere Persönlichkeit zu entfalten. Generell gibt es für die Selbstentfaltung auch eine soziale und gesellschaftliche Dimension. So könnte der Wert Respekt z.B. Grenzen setzen, wenn meine Entfaltung andere Menschen an ihrer Entfaltung hindert. Auf der anderen Seite könnte die ursprüngliche, intrinsische Motivation durch extrinsische Motivation verdrängt worden sein, weil man nach gesellschaftlicher Beachtung, Karriere, Reichtum oder Ruhm strebt oder einfach in Mutters oder Vaters Fußstapfen treten soll. Selbstentfaltung im FLOW-Gefühl gibt Energie für Veränderung aus Begeisterung, Neugier, was auch ein Geschenk für Organisationsentwicklung und Unternehmensentwicklung ist.
- Strokehunger (engl. stroke), Es werden drei Weisen beschrieben, um Beachtung auszudrücken, und zwar durch Berührung (Körperkontakt), Zuwendung (Blick, Gestik, Stimme, usw.) und Anerkennung (Eigenart und Leistung). Generell können Strokes streichelnd oder schlagend und bedingt oder unbedingt sein. Vor dem Hintergrund von Respekt, Wohlwollen, zugewendet / interessiert Sein, Aufmerksamkeit und Freundlichkeit ist Wertschätzung ein zentraler Begriff, der auch im agilen Umfeld benutzt wird.
- Stimulushunger (engl. stimulus): Stimulation also Sinnesreize gibt es in der heutigen Welt zu Hauf. Die Kunst ist es eigentlich trotz individueller Übersättigung oder Untersättigung z.B. E-Mail-Flut, Meeting Hopping, Skype, … Seifenopern, Horrorfilmen die Autonomie und Bewusstheit zu wahren und sich konstruktiv weiterzuentwickeln.
- Strukturhunger (engl. structure): Beim agilen Kulturwandel geht es stärker von (Prozess-)Anweisung in Richtung Auftrag nach dem Delegationskontinuum von McGregor oder in Richtung Selbstführung. In der agilen, digitalen Welt werden neue Prozesse, Denkmodelle, Rollen und Berufe geschaffen, andere fallen weg. Diversität, Multiperspektivität werden im Sinne der Ich-Entwicklungsstufen bzw. Ichzustand-Entwicklung geschätzt. Die Veränderungsaffinität bildet Polaritäten mit Sicherheit und Dauer, so dass jedes Individuum seine Position und sein Handeln wiederholt reflektieren muss. Respekt, wer sich diesen Veränderungsimpulsen stellt und nicht stehen bleibt und zurückfällt.
„Ein Produkt des Strukturhungers ist der „Führungshunger“, der sich rasch und immer dann einstellt, wenn der Gruppenführer sich weigert, ein fest umrissenes Programm bekanntzugeben, oder wenn er auf einem Treffen nicht anwesend ist und kein angemessener Ersatz für ihn gefunden werden kann.“ (Berne, 1979, S. 236)
- Standinghunger (engl. standing): Der Standinghunger ist ein sehr interessanter Hunger aus Sicht des Autors, denn hier zeigen sich die Veränderungen in Autonomiestufen und Ich-Entwicklungsstufen oder im Führungsverständnis. Alleine das Wort „Loyalität“ als Wert birgt sehr viele unterschiedliche Perspektiven, von der klassischen Unterordnung in der Hierarchie bis zum Wertebaum von Upstalsboom. Respekt und Standing, wie stehen diese Begriffe in Beziehung? Auch die Veränderung der Frage: „Welches Standing erwarten Sie von Ihrer Führungskraft?“ zu „Welches Standing wünschst Du Dir von Deiner Führungskraft als Mentor / Coach?“ bringt sehr unterschiedliche Aspekte zum Vorschein. Standing ist das außen, sichtbare Verhalten, welches aus einer Führungshaltung, einem Führungsmindset und einer Führungskultur resultiert (vgl. Artikel „Führung – von Menschenführung, Führungskultur und Führungsmindset„).
- Spirithunger (engl. spirit):
Spirit beschreibt die innere Haltung, das Leading myself, die Eigenmotivation, meine Werte, Prinzipien, Vision oder meine Spiritualität, sprich mein Führungsmindset. Spirit ist die Authentizität für das Standing. Boris beschreibt Spirit als Haltung der Liebe, was Leo Tolstoi mit
„Man kann ohne Liebe Holz hacken, man kann aber nicht ohne Liebe mit Menschen umgehen.“ (mehr Zitate zum Führen)
ausdrückt. Liebe ergänzt das Bild vom Respekt als Wert. Diese Haltung der Liebe in Kombination mit positiven Strokes fördert darüber hinaus die Selbstentfaltung. Authentizität durch Eigenmotivation führt auch zu Motivation bei anderen Menschen. Liebe und Eigenmotivation speisen sich aus dem Sinn. - Sinnhunger (engl. sense) Die Frage nach dem Why? – Wofür stehe ich oder die Organisation? Welcher Mission folge ich oder folgt die Organisation? Der Sinnhunger drückt das Bedürfnis aus, den Sinn in Einklang mit den Werten, dem Verhalten, den Absichten, der Mission, der Vision, der Identität und den Talenten zu bringen. So betrachter ist der Sinn der Wegweiser ins eigene FLOW-Gefühl und die Selbstentfaltung in der Führungsrolle mit Vorbildfunktion oder Ermutigungsfunktion.
„Ein Beispiel zu geben ist nicht die wichtigste Art, wie man andere beeinflusst. Es ist die einzige.“ (Albert Schweitzer, Nobelpreisträger)
Veröffentlichung im Kongressreader
Bone, Michael (2022) Respekt ein agiler Wert für das Miteinander. In Iris Fassbender, Bettina Heinrich, Elke Kauka (Hrsg.), Begegnungen – Respekt und Toleranz für ein friedvolles Miteinander, S.26ff. Lengerich: Pabst Science Publishers, Print ISBN 978-3-95853-763-7, E-Book ISBN 978-3-95853-764-4